Die leise Macht der Scham

Autor*in:  | 11. August 2024

Ruff, M.-B. & Petrik, F. (2024)

Der Artikel beleuchtet die tiefgreifende Rolle der Scham in sozialen Machtverhältnissen, insbesondere im Zusammenhang mit Klasse und Rassismus. Die Autorinnen argumentieren, dass Scham als Vermittler zwischen individuellen Erfahrungen und gesellschaftlichen Bedingungen fungiert und eine zentrale Funktion bei der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten übernimmt. Diese Ungleichheiten, so stützen sich die Autorinnen auf Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt, werden oft als natürlich und unvermeidlich dargestellt, was ihre gesellschaftliche Akzeptanz und Reproduktion verstärkt.

Im Verlauf des Artikels werden zwei interdisziplinäre Forschungsprojekte vorgestellt, die unterschiedliche Aspekte der Scham untersuchen: eine qualitative Studie über Bildungsaufsteiger*innen sowie eine theoretische Untersuchung der Scham in der politischen Bildung. Aus diesen Projekten leiten die Autorinnen drei zentrale Facetten der Scham ab, die im Kontext symbolischer Gewalt von Bedeutung sind. Erstens fungiert Scham als ein Scharnier, das zur Reproduktion und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten beiträgt. Zweitens ist Scham eng mit Abwehrmechanismen verbunden, die sie verarbeiten und ihre Auswirkungen abmildern. Drittens wird Scham als eine Qualität einer Stimmung beschrieben, die die soziale Atmosphäre und das Zugehörigkeitsgefühl beeinflusst.

Besonders betont wird die Rolle der Scham in der Reproduktion von Klassenverhältnissen und rassistischen Strukturen. Scham wird als eine soziale Mechanik beschrieben, die Menschen davon abhält, sich gegen festgelegte Klassengrenzen aufzulehnen, indem sie diese Grenzen als legitim und unabänderlich darstellt. Insbesondere bei Bildungsaufsteiger*innen spielt Scham eine prägnante Rolle, da der Übergang in ein höheres soziales Milieu oft schmerzhafte Schamgefühle auslöst. Diese Gefühle führen nicht selten zu Selbstzweifeln und verhindern, dass die Betroffenen die strukturellen Ungleichheiten hinterfragen.

Im Zusammenhang mit Rassismus wird die Scham sowohl bei diskriminierten Gruppen als auch bei privilegierten Personen thematisiert. Während erstere Scham aufgrund von Ausschluss und Abwertung erfahren, erleben privilegierte Personen Scham, wenn sie sich ihrer eigenen Verstrickung in rassistische Strukturen bewusst werden. Hierbei fungiert Scham als ein Mittel der sozialen Kontrolle, das zur Internalisierung von Unterlegenheit führt, kann jedoch auch als notwendiger Bestandteil von Lernprozessen im Umgang mit Rassismus gesehen werden. Der Artikel zeigt, dass Scham ein wiederkehrendes biografisches und affektives Muster darstellt, das insbesondere soziale Klassenübergänge und Erfahrungen von Rassismus prägt. Scham zeigt sich nicht nur in konkreten Situationen, sondern verankert sich als überdauerndes Gefühl in der Biografie einer Person.

Zudem untersucht der Artikel die ambivalente Natur der Scham. Einerseits wirkt sie als schmerzhaftes Gefühl von Unterlegenheit, andererseits kann sie auch als Ressource dienen, die eine Distanzierung von klassenspezifischen Werten ermöglicht und somit einen emanzipatorischen Bildungsprozess fördert. Im Kontext von Rassismus zeigt sich, dass das Erleben von Scham stark davon abhängt, ob eine Person als zugehörig oder ausgegrenzt wahrgenommen wird. Für rassistisch diskriminierte Menschen kann Scham zu einem allumfassenden, chronischen Gefühl werden, das ihre gesamte Wahrnehmung und Interaktion mit der Welt beeinflusst. Der Text analysiert auch Mechanismen der Schamabwehr, die in rassistischen Kontexten häufig zu Verhaltensmustern führen, die auf Anpassung und Vermeidung von Konfrontationen abzielen.

Abschließend wird diskutiert, wie Scham als eine Art “Stimmung” fungiert, die tief in die individuelle Wahrnehmung und das Erleben von sozialen Ungleichheiten eingebettet ist. Abhängig davon, wie sie biografisch verarbeitet wird, kann Scham sowohl stabilisierend als auch transformierend wirken. Insgesamt verdeutlicht der Artikel, dass Scham eine komplexe und ambivalente Rolle spielt, die stark von sozialen, historischen und politischen Kontexten geprägt ist.

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