Wut als Wegweiser: Die heilende Natur einer oft missverstandenen Emotion.
Kienle, D. & Witte, S. (2016)
Leitartikel: Heilsamer Zorn: Über die Wut und ihre positiven Wirkungen.
Die oftmals kritisierte Emotion der Wut wird von rational denkenden Menschen gemieden, da Wutausbrüche als unhöflich und primitiv gelten. Historisch betrachtet wurde Wut von Philosophen häufig als Charakterschwäche eingestuft. Im 17. Jahrhundert beschrieb der Engländer Francis Bacon sie als typische Emotion der Schwachen, darunter Kinder, Frauen, Alte und Kranke. Im Buddhismus gilt Wut als Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung, im Islam wird sie mit Satan in Verbindung gebracht und im Christentum wurde sie ab dem Frühmittelalter zu den sieben Todsünden gezählt.
Dennoch gibt es Situationen, in denen Wut durchaus gesund sein kann. Experten plädieren dafür, die eigene Wut auszuleben, anstatt sie ständig zu unterdrücken. Einige Forscher glauben, dass unterdrückte Wut zu ernsthafter Schwermut führen kann. Manche Menschen projizieren ihre Wut nicht nach außen, sondern gegen sich selbst, was negative Auswirkungen auf die seelische Balance haben kann. Forscher wie der US-Psychologe Raymond DiGiuseppe vermuten, dass verinnerlichte Wut eine Ursache für viele Depressionen sein könnte. Insbesondere Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle zu deuten und zu regulieren, sind anfällig für Angststörungen und Depressionen, die auf unterdrücktem Zorn basieren.
Es ist also wichtig, Wut differenziert zu betrachten. Wut führt zu einer Reihe physiologischer Reaktionen, indem Stresshormone wie Kortisol, Noradrenalin und Adrenalin ausgeschüttet werden, welche wiederrum den Blutzuckerspiegel sowie den Blutdruck erhöhen. Es handelt sich also um einen erstaunlichen Mechanismus der Evolution, welcher einst dafür sorgte, dass Konfliktsituationen unter unseren Vorfahren nicht ständig eskalierten. Durch Wutreaktionen wird unser Gegenüber bestenfalls abgeschreckt, Grenzen werden aufgezeigt.
Auch in gesellschaftlicher Hinsicht spielt Wut eine bedeutende Rolle, da es nur so zu grundlegenden politischen Veränderungen kommen kann. Menschen kämpfen seit Jahrhunderten gemeinsam, durch Zorn vereint, für ihre Ziele.
Die Prägung des Wutverständnisses erfolgt maßgeblich durch die Erziehung durch Bezugspersonen. Wenn Heranwachsende erleben, dass Konflikte offen ausgetragen und Gefühle authentisch gezeigt werden, fällt es ihnen später leichter, ihre eigenen Regungen zu akzeptieren und zu regulieren. Authentizität, das Zeigen eigener Grenzen und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Verhalten sind hierbei entscheidend.
Zorn im familiären oder freundschaftlichen Umfeld kann zudem auch als Ausdruck tiefer Zuneigung interpretiert werden – nur so kann gezeigt werden, dass einem die anderen Person und die gemeinsame Beziehung nicht gleichgültig ist.
Es ist jedoch wichtig, sich der Ambivalenz von Wut bewusst zu sein: Sie darf zwar ausgedrückt werden, sollte jedoch nicht die Kontrolle übernehmen. Der verantwortungsbewusste Umgang mit Wut erfordert das Anerkennen dieser Emotion und das Erlernen von Techniken, um sachlich und selbstbeherrscht zu agieren. Die Wissenschaftler sind sich jedoch einig: Wut sollte nicht unterschätzt werden. Richtig kultiviert und in angemessenem Maße zugelassen, hilft sie dabei, Grenzen zu setzen und klare Entscheidungen zu treffen.